Prof. Dr. Heribert Dieter analysiert die Situation Indiens, das sich stärker in die Weltwirtschaft integrieren möchte und einen Fokus auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit legt. Im Jahr der G20-Präsidentschaft kommt Dehli besondere Aufmerksamkeit zu. Seit vielen Jahren gilt Indien als ein Land mit großem wirtschaftlichem Potenzial, aber immer wieder wurden hochfliegende Erwartungen enttäuscht – es entwickelte sich häufig schwächer als erwartet. Lange war Indien geprägt von demokratischem Regieren und sozialistischer Wirtschaftspolitik. Dies könnte sich nun ändern.
Indiens Außenwirtschaft setzt auf eine Steigerung der Warenexporte. Dazu werden auch große Infrastrukturprojekte in Angriff genommen, um die Handelskosten zu senken.
Seit vielen Jahren gilt Indien als ein Land mit großem wirtschaftlichem Potenzial, aber immer wieder wurden hochfliegende Erwartungen enttäuscht – es entwickelte sich häufig schwächer als erwartet. Lange war Indien geprägt von demokratischem Regieren und sozialistischer Wirtschaftspolitik. Dies könnte sich nun ändern. Die Regierung verfolgt einen Dreiklang aus vorsichtiger Liberalisierung der Wirtschaft, zügigem Ausbau der Infrastruktur und gleichzeitiger Dämpfung der negativen Folgen der Globalisierung durch internetgestützte Zahlungen von Sozialleistungen.
Dabei ist die schon bisherige Bilanz des Landes recht beeindruckend. Von 1980 bis 2021 stieg die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung nach Angaben der Weltbank von 390 auf 1940 US-Dollar. Gleichzeitig hat sich die Bevölkerung von 1980 bis 2022 von 697 Millionen auf 1422 Millionen Menschen etwas mehr als verdoppelt. Indien wird 2023 zum bevölkerungsreichsten Staat der Welt und wird dies, auch wegen der sinkenden Bevölkerungszahlen in China, im gesamten 21. Jahrhundert bleiben.
Heute ist Indien als Partner gefragt, sowohl bei ausländischen Politikern als auch bei Investoren. Erstmals sollen im Fiskaljahr 2022/23, das von April bis März reicht, mehr als 100 Milliarden USDollar an ausländischen Direktinvestitionen nach Indien fließen. Vor zehn Jahren lagen diese noch bei einem Viertel des heutigen Wertes.
Die administrativen und regulatorischen Hürden wurden für in und aus ländische Unternehmen deutlich gesenkt. Die Weltbank erfasst die Beschränkungen, denen Investoren unterliegen, in einem Index, dem „Ease of Doing Business Index“. Dort nimmt Indien heute einen respektablen 62. Platz ein und liegt nur knapp hinter Mexiko (Platz 60) und Italien (Platz 58). Seit 2014, dem Beginn der Regierungszeit von Premierminister Narendra Modi, hat sich das Land im Weltbank-Ranking von Platz 142 um bemerkenswerte 80 Plätze verbessert. Gewiss gibt es immer wieder Kritik an der Aussagekraft dieses Index, aber deutlich er kennbar ist, dass die indische Regierung mit Nachdruck am Abbau bürokratischer Hemmnisse arbeitet und dabei auch Erfolge vorzuweisen hat.
Innerhalb der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) ist das Wachstum der ausländischen Direktinvestitionen allerdings umstritten. Die BJP ist keine liberale, sondern eine stark nationalistisch geprägte Partei, in der es skeptische Stimmen im Hinblick auf die Öffnung des Landes gibt. Premier Modi konnte die Kritiker seines partiellen Öffnungskurses bislang in Schach halten; aber die tiefsitzenden Ressentiments gegenüber einer weitreichenden Liberalisierung der Außenwirtschaft prägen die Politik des Landes nach wie vor.
Heute ist Indien die fünfgrößte Volkswirtschaft der Welt und soll schon in acht Jahren Japan und Deutschland überholt haben und auf Platz drei stehen. Indiens Wirtschaftsleistung könnte bis 2032 auf 8500 Milliarden Dollar wachsen, was einer Verdopplung entspräche. In den kommenden Jahren könnte sich Indien tatsächlich zu einem Wachstumspol der Weltwirtschaft entwickeln. Verschiedene Faktoren fördern Indiens Aufstieg: die stabile demografische Entwicklung, der erfolgreiche Ausbau der Infrastruktur, aber auch die geopolitische Lage, die das Land begünstigt.
Indien, heute fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, könnte in acht Jahren bereits auf Platz drei stehen.
Derzeit gibt es in Indien 140 Milliardäre – mehr als in jedem europäischen Land; nur die Vereinigten Staaten und China weisen eine höhere Zahl an Superreichen auf. Zugleich erlebt die breite Bevölkerung eine deutliche Verbesserung ihrer materiellen Lage. Heute haben nahezu alle Inder (99 Prozent) ein Bankkonto, während es vor zehn Jahren erst 59 Prozent waren. Mobiltelefone prägen den indischen Alltag: Sie werden zur Zahlung verwendet, aber auch zur Unterhaltung. Der durchschnittliche Datenverbrauch pro Sim Karte beträgt in Indien 18 Gigabyte und liegt damit mehr als dreimal so hoch wie in Deutschland.
Schwache verarbeitende Industrie
Indien verfügt seit Längerem über eine leistungsfähige Informatik, liegt aber bei der verarbeitenden Industrie weit zurück. 2021 exportierte Indien Softwaredienstleistungen im Wert von 172 Milliarden Dollar, aber direkt beschäftigte die Branche nur rund fünf Millionen Menschen. Angesichts der großen Zahl an arbeitssuchenden jungen Leuten ist es unabdingbar, dass die verarbeitende Industrie deutlich ausgebaut wird. Erste Prognosen deuten darauf hin: Die amerikanische Investmentbank JP Morgan erwartet eine Steigerung des Anteils der Industrie an der indischen Wirtschaftsleistung von heute 15 auf 21 Prozent bis 2031. Im gleichen Zeitraum wird mit einer Verdopplung der Exporte von Industrieprodukten gerechnet.
Indien förderte den Ausbau mit industriepolitischen Maßnahmen und folgt damit dem Beispiel Chinas, der USA und vieler OECD-Länder. Die Regierung Modi unterstützt Unternehmen, die in 14 ausgewählten Sektoren ihre Produktionskapazitäten ausbauen. Natürlich stellt sich die Frage, ob es eine kluge Wirtschaftspolitik ist, steuernd in die Industrieproduktion einzugreifen. Aber gerade ein noch vergleichsweise schwach entwickeltes Land wie Indien kann sich dem weltweiten Subventionswettlauf vermutlich nicht entziehen.
Premierminister Narendra Modi orientiert sich bei seiner Wirtschaftspolitik am Modell seines Heimatbundesstaats Gujarat im Nordwesten Indiens. Dort liegt der Anteil der verarbeitenden Industrie bei rund 30 Prozent der Wirtschaftsleistung, was etwa dem chinesischen Niveau entspricht und doppelt so hoch ist wie in ganz Indien.
In Gujarat werden 30 Prozent der indischen Exportprodukte hergestellt. Mit dieser auf den Ausbau der Industrie setzenden Politik ist dieser Bundesstaat gut gefahren: Von 2011 bis 2021 wuchs die Wirtschaft Gujarats mit durchschnittlich 11 Prozent stärker als die jedes anderen indischen Bundesstaats. Modis Wirtschaftspolitik wird von ausländischen Beobachtern auch als „Gujaratifizierung“ bezeichnet.
Allerdings kann man die heutige Politik Indiens auch als Übernahme des ostasiatischen Entwicklungsmodells beschreiben: Indien setzt wie früher Japan oder Südkorea auf eine Steigerung der Warenexporte, verbunden mit einer anhaltend vorsichtigen Importpolitik. Finanziert werden die Investitionen vorwiegend durch interne Ersparnis und weniger durch Kredite aus dem Ausland. Diese auf Industrialisierung setzende Wirtschaftspolitik ist in Indien populär. Premier Modi erhält Zustimmungswerte von nahezu 80 Prozent – ein absolut bemerkenswerter Wert für einen seit neun Jahren amtierenden Politiker.
iPhones made in India
Indien profitiert fraglos von der zuneh mend erratischen Wirtschaftspolitik der chinesischen Regierung. Zudem werden in China auch ausländische Investoren in ein immer engeres Regulierungskorsett gezwungen. Für große Aufmerksamkeit sorgte im Jahr 2022 die Entscheidung von Apple, einen Teil der neuesten iPhones nicht mehr ausschließlich in China, sondern auch in Indien herstellen zu lassen. Schon 2027 könnte die Hälfte aller iPhones in Indien produziert werden. Dies wäre ein deutlicher Anstieg vom heutigen Wert, der bei 5 Prozent liegt. China und Indien würden in fünf Jahren jeweils die Hälfte aller iPhones herstellen.
Wie zuvor in China liegt die Verantwortung für die Produktion nicht bei Apple selbst, sondern beim Unternehmen Hon Hai Precision Industry, bekannt als Foxconn. In der Nähe der südindischen Metropole Chennai baut Foxconn derzeit Unterkünfte für 60.000 Mitarbeiter, die künftig iPhones herstellen werden. Doch Foxconn belässt es nicht bei Telefonen, sondern baut auch ein neues großes Werk für Halbleiter im westindischen Gujarat. Die Dimensionen sind gewaltig. Foxconn investiert zusammen mit einem indischen Partner insgesamt 20 Milliarden Dollar. In dieser Fertigungsstätte sollen einmal 100.000 Menschen arbeiten, gut zehn Mal so viele wie im geplanten Intel-Werk in Magdeburg.
Ausbau der Infrastruktur
Im Dezember 2022 wurde im Norden des Bundesstaats Goa ein zweiter Flughafen eröffnet. Regierungschef Modi wies bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass es bis zum Jahr 2014 in ganz Indien 70 Flughäfen gab und seitdem 72 neue Airports eröffnet worden seien. Seine Partei, die Bharatiya Janata Party (BJP), gilt den Indern zu Recht als Partei des Infrastrukturausbaus. Gegenüber der vor 2014 regierenden Koalition, die von der Kongresspartei angeführt wurde, hat die BJP den Anteil des Ministeriums für Straßenbau an den Gesamtausgaben der Zentralregierung von 2 auf fast 5 Prozent mehr als verdoppelt, während die Ausgaben für Sozialleistungen von 10 auf etwa 6 Prozent gesenkt wurden.
Modernisierung der Eisenbahnen: Im Januar 2023 wurde mit Siemens ein Vertrag über die Lieferung von 1.200 Lokomotiven geschlossen.
Heute ist Indien nicht nur einer der Märkte mit dem schnellsten Wachstum an Passagieren und Fracht – Fliegen wird auch sicherer. Der International Civil Aviation Organization (ICAO) der Vereinten Nationen zufolge ist Fliegen in Indien heute weniger gefährlich als in China oder der Türkei. Im globalen Ranking der Flugsicherheit sprang Indien von Platz 102 auf Rang 48 (2022).
Die indische Infrastruktur ist den Anforderungen an eine in den Weltmarkt integrierte Volkswirtschaft bislang noch nicht gewachsen. Allerdings wird einiges unternommen, um insbesondere die Eisenbahnen zu modernisieren. Im Januar 2023 wurde zwischen der indischen Eisenbahngesellschaft und Siemens ein Vertrag über die Lieferung von 1.200 Lokomotiven geschlossen. Es handelt sich um den größten Einzelauftrag für Lokomotiven in der über 175-jährigen Firmengeschichte des Konzerns. Die Motoren der Lokomotiven sollen in Indien hergestellt werden.
Für die Integration indischer Industrie unternehmen in internationale Produktionsnetzwerke ist gerade der Ausbau des Güterverkehrs von Belang. Gebaut werden derzeit zwei Güterverkehrskorridore: einmal der rund 1.500 Kilometer lange „Western Corridor“ zwischen Neu Delhi und Mumbai, zum anderen der fast 1.900 Kilometer lange „Eastern Corridor“ zwischen dem Punjab und Kalkutta. Die beiden ausschließlich dem Güterverkehr vorbehaltenen Strecken sollen im Laufe dieses und des kommenden Jahres in Betrieb gehen.
Der Effekt dieser Infrastrukturmaßnahmen ist die Senkung der Handelskosten. Gerade für Unternehmen im Binnenland wird es deutlich billiger werden, Waren mit dem Ausland zu handeln. Die bisherigen Transportmittel, vor allem Lastwagen, waren nicht nur unproduktiv, sondern auch relativ teuer. Indien rückt näher an die Märkte der Welt heran. Nachdem die Transportkosten von Ostasien nach Europa zeitweilig extrem teuer waren, ist es für Unternehmen auch nützlich, dass der Transport eines Containers von Mumbai nach Nordeuropa nur halb so lange dauert wie von chinesischen Häfen und damit deutlich billiger sein kann.
Keine Diktate aus Brüssel
Ein weiteres Element der heutigen indischen Außenwirtschaftspolitik ist der Aufbau eines Netzes von Freihandelsabkommen. Zwischen 2014 und 2022 wurde zwar kein einziges neues Abkommen vereinbart, aber inzwischen ist das Freihandelsabkommen mit Australien in Kraft getreten und eine Reihe weiterer Abkommen werden gegenwärtig verhandelt.
Aus Sicht Indiens ist aber gerade die Europäische Union ein schwieriger Verhandlungspartner. Die indische Regierung beklagt sich über zu weitreichende Forderungen der Europäer. Diese Kritik betrifft keineswegs nur die Regulierung des Warenhandels, sondern auch den Dienstleistungshandel. Die europäische Wertpapieraufsicht ESMA verlangt für das Indien-Geschäft neue, weitreichende Aufsichts- und Prüfungsbefugnisse. Die indische Notenbank lehnt diese Forderungen kategorisch ab, weil sie einer ausländischen Behörde Eingriffe in den indischen Finanzmarkt erlauben und der ESMA extraterritoriale Reichweite verschaffen würden.
Wollen die EU-Staaten Indien als gleichberechtigten Partner gewinnen oder auf der Durchsetzung ihrer Prinzipien beharren?
Die Länder der Europäischen Union werden gewiss versuchen, die Wirtschaftsbeziehungen zu Indien in den kommenden Jahren auszubauen. Angesichts der aus indischer Sicht vorteilhaften geopolitischen Konstellation wird die Regierung in NeuDelhi Diktate aus Brüssel vehement ablehnen.
Es hat den Anschein, als ob die Regierung der USA eher bereit sein wird, Indiens Weg zu unterstützen. Beispielsweise äußert Washington keine öffentliche Kritik am Ausbau des indisch-russischen Handels seit Februar 2022.
In den kommenden Jahren werden die Regierungen Europas die Frage beantworten müssen, ob sie Indien als gleichberechtigten Partner mit eigenen Perspektiven gewinnen möchten oder ob die Durchsetzung europäischer Prinzipien versucht werden soll. Letzteres wird mit der durch wirtschaftliche Erfolge und gestiegene geopolitische Relevanz gestärkten indischen Regierung kaum gelingen.
Prof. Dr. Heribert Dieter, Adjunct Professor am National Institute of Advanced Studies in Bangalore und Wissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Erscheinen in Zeitschrift „Internationale Politik“, März/April 2023.