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Indiens Wirtschaft boomt gemäss der Regierung – aber stimmt das auch?

Indiens Wirtschaft boomt gemäss der Regierung – aber stimmt das auch?

Kaum ein Land wird derzeit von internationalen Investoren so hofiert wie Indien. Aber es lohnt sich, hinter die Wachstumszahlen zu blicken.

Kaum ein Land wird derzeit von internationalen Investoren so hofiert wie Indien. Aber es lohnt sich, hinter die Wachstumszahlen zu blicken.

Indien boomt, zumindest wenn es nach der indischen Regierung um den Premierminister Narendra Modi geht. Sie reiht Investorenkongress an Investorenkongress, die Botschaft ist stets die gleiche: Wer als ausländischer Investor den Sprung nach Indien jetzt verpasst, ist selber schuld.

Und tatsächlich folgen viele dem Ruf. Das wahrscheinlich prominenteste Beispiel ist Apple. Der Tech-Gigant lässt heute 7 Prozent seiner iPhones in Indien herstellen. Elon Musk hat angekündigt, mit Tesla in Indien zu investieren. Viele dieser Investments geschehen im Rahmen der «China plus one»-Strategie: Die grossen Tech-Unternehmen wollen nicht mehr vollständig abhängig sein von China und versuchen ihre Produktionsstandorte zu diversifizieren.

Modis Strategie, Indien als boomende Wirtschaftsmacht, scheint aufzugehen. Eigentlich wollte Indien bis 2025 ein Bruttoinlandprodukt (BIP) von 5 Billionen Dollar erwirtschaften, damit wäre es die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt (hinter den USA und China). Das Ziel wurde später, auch wegen der Covid-Pandemie, weiter in die Zukunft verschoben. Im Jahr 2022 betrug das indische BIP knapp 3,4 Billionen.

Damit Indien seine Wachstumsziele erreicht, gehen Experten davon aus, dass es Wachstumsraten von jährlich 8 bis 9 Prozent erreichen muss. Und hier liegt der Clou.

Fokus auf BIP-Wachstum

Das nationale Statistikbüro geht derzeit von einem Wachstum von 7,8 Prozent im Jahr 2023 aus. Internationale Einschätzungen sind etwas konservativer, die meisten gehen von einem Wachstum zwischen 6 und 7 Prozent aus.

Es gibt allerdings Experten, die selbst diese Wachstumszahlen für überschätzt halten. Der Ökonom Ashoka Mody sagte in einem Interview mit der NZZ im Frühjahr, er sehe den indischen Boom kritisch, er sei nicht echt. In einem Meinungsbeitrag für «The Hindu» rechnete Modi kürzlich nach: Im Jahr vor der Pandemie habe das tatsächliche Wachstum gerade einmal 3,9 Prozent betragen. In und nach den Pandemiejahren war das Wachstum – den Lockdown- und Öffnungsmassnahmen geschuldet – ein stetes Auf und Ab. Für diese Zeit müsse man einen Durchschnittswert berechnen. Vergleiche man die vier Quartale vor der Corona-Pandemie mit den letzten vier Quartalen überhaupt, betrage die Wachstumsrate gerade einmal 4,2 Prozent.

Mody ist einer von vielen Ökonomen, die den indischen Fokus auf das BIP-Wachstum kritisieren. Indiens Regierung konzentriert sich in ihrer Wachstumsstrategie fast einzig auf die BIP-Zahlen, andere Indizes spielen höchstens noch eine untergeordnete Rolle. Mody glaubt, ökonomischer Erfolg lasse sich nicht einfach nur im BIP messen. Er schreibt: «Das BIP ist ein fehlerhafter Index für den nationalen Wohlstand. Es versteckt Ungleichheit und lenkt ab von dem akuten Mangel an Jobs, schlechter Bildung und schlechter Gesundheitsversorgung, unbewohnbaren Städten, einem kaputten Justizsystem und Umweltschäden.»

Tatsächlich lauern hinter dem BIP-Wachstum in Indien Zahlen, die am langfristigen indischen Wirtschaftsboom zweifeln lassen. Die Investitionen des privaten Sektors in die indische Wirtschaft sinken, sie betragen noch 10 Prozent des BIP. Die heimischen Firmen trauen dem Boom weniger als ausländische Investoren, und das hat einen Grund: Die indische Kaufkraft ist tief. Zwar gibt es eine reiche Elite, welche sich Luxusgüter leisten kann. Allerdings sinkt der Konsum der normalen Inder und Inderinnen.

Weniger Roller verkauft

In einem Beitrag für «The India Forum» hat der Ökonom Vivek Kaul Zahlen für Alltagsgegenstände zusammengetragen, welche sich die meisten Inder leisten oder leisten müssen. Angefangen bei Rollern und Motorrädern, dem bevorzugten Fortbewegungsmittel von Indiens Mittelklasse – ein Roller oder ein Motorrad symbolisiert den Aufstieg in die Mittelklasse, es ist wahrscheinlich das Teuerste, was sich die meisten Inder neben einem Haus oder einer Wohnung leisten. 2022/23 wurden in Indien 15,86 Millionen Roller und Motorräder verkauft. Das sind fast gleich viele wie 2014/15 und massiv weniger als 2018/19, damals waren es 23,18 Millionen.

Die Zahl verkaufter Modelle ist noch tiefer, wenn man sich nur Einstiegsmodelle anschaut: also billige Roller, die man sich als Aufsteiger in die Mittelklasse leisten kann. Ähnlich schaut es bei Einstiegsmodellen für Autos aus: Hier sank die Zahl seit 2016/17 um 57 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der verkauften (teuren) SUV, sie machen heute die Hälfte aller in Indien verkauften Autos aus.

Ein dritter Indikator ist für Kaul das Reisen. Zwar steigt die Anzahl Flugreisen in Indien. Die grosse Mehrheit der Inder reist allerdings noch immer mit dem Zug. Auch hier sank die Passagierzahl gegenüber den Vor-Covid-Jahren rapide. Viele können sich lange Reisen nicht mehr leisten.

Kauls Analyse passt zu den Aussagen der Verantwortlichen von Hindustan Unilever, einem grossen Hersteller von Konsumgütern des täglichen Bedarfs wie Zahnpasta oder Seife. Die Firma kommunizierte dieses Jahr, dass die Nachfrage sinkend sei, vor allem im ländlichen Indien.

Mehr Schulden, weniger Erspartes

In seinem Buch «The Eight Per Cent Solution» schreibt der Ökonom Nikhil Gupta darüber, welche Massnahmen Indien treffen könnte, um das angepeilte Wirtschaftswachstum zu erreichen. Er glaubt, die Regierung müsse sich mehr auf den einzelnen Haushalt konzentrieren. Denn auch hier verdeckt das BIP Entwicklungen, die nicht gerade für eine boomende Wirtschaft sprechen.

Guptas Analyse von Einkommen, Konsum, Erspartem, Investitionen und Schulden des indischen Privathaushalt-Sektors ergab, dass sich «die Finanzsituation der Haushalte in den vergangenen Dekaden dramatisch verschlechtert hat». Zahlen der indischen Zentralbank zeigen, dass das Ersparte von indischen Haushalten sinkt. Gleichzeitig verschulden sich die Haushalte mehr. Das offenbart: Um zu konsumieren, verschulden sich Haushalte oder geben ihr Erspartes aus.

Laut dem Centre for Monitoring Indian Economy, das regelmässig Arbeitslosenquoten publiziert, ist die Arbeitslosigkeit im Land derzeit so hoch wie letztmals im Mai 2021: Sie liegt bei 10,05 Prozent.

Gupta schreibt: «Damit stellen sich ernsthafte Fragen zu Indiens Fähigkeit, schnell und nachhaltig zu wachsen in den kommenden Dekaden, denn dies ist ein wichtiger struktureller Verhinderer für höheres Wachstum.»

Es ist nicht gesagt, dass Indien mit seinem Wachstumsziel scheitern muss. Aber es lohnt sich, die Zahlen etwas genauer anzuschauen.

Autor: Andreas Babst · Artikel aus der NZZ · Bild: Während Indiens Wirtschaft wächst, schrumpft das Ersparte von Privathaushalten. (Indranil Aditya/Imago)

Mit freundlicher Genehmigung der NZZ und auf vertraglicher Grundlage.

 

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