Nicht jede Wahl ist eine Qual: Indien und Europa, das Bündnis nach Wahl
Narendra Modi, seit zehn Jahren Indiens Regierungschef, ist vergangenen Sonntag trotz des überraschenden Verlustes der absoluten Mehrheit, mit der er in den letzten Jahren so bequem und immer selbstsicherer regiert hat, erneut zum Premierminister seines Landes vereidigt worden. Vorausgegangen war die einstimmige Ernennung Modi’s zum Präsidenten der Nationalen Demokratischen Allianz, der auch seine BJP angehört, womit er sich seine Koalitionspartner und damit die Mehrheit des Wahlkollegiums gesichert hatte.
Die Wahl als solche war beeindruckend. Fast eine Milliarde Inder waren wahlberechtigt, zwischen 60% und fast 70% der Wahlberechtigten haben an den sieben zeitlich und regional differenzierten Wahlterminen teilgenommen.
Und dann ist da das Wahlergebnis, das alle Voraussagen widerlegt hat. Noch bis kurz vor der Schließung der Wahllokale hatte Modi Indien seinen überwältigenden Sieg versprochen. Nach der Wahl musste er feststellen, dass der Zenit seiner Macht wohl überschritten ist.
Beides zusammen, die Wahl selbst und ihr Ergebnis sind in Zeiten sich weltweit ausbreitender Autokratie ein enorm starkes Zeichen von Lebendigkeit und Tragfähigkeit für das freiheitliche Gesellschaftsmodell Demokratie.
Modi hatte in seinem energisch geführten Wahlkampf auf einen hindu-nationalistischen Kurs gesetzt und darauf gehofft, dass ihm die wirtschaftlichen Erfolge seiner Amtszeit den gewünschten Rückenwind geben würden. Die Rechnung ging nicht ganz auf. Wohl zu aggressiv trieb er seine religiöse Agenda voran, gegen die säkulare Verfasstheit des Landes und gegen den Willen eines Großteils der Bevölkerung nach Frieden unter den Religionen, und zu wenig bis gar nicht sah sich offenbar vor allem die indische Jugend begünstigt durch den enormen wirtschaftlichen Aufstieg und Aufschwung des Landes.
Das Ziel von Modi‘s nunmehr dritter Amtszeit, das ambitioniert schon beim verfehlten Ziel einer absoluten Mehrheit gewesen wäre, bleibt trotz seiner einschneidenden persönlichen Niederlage unverändert virulent: Indien auf Platz 3 der Liga der führenden Wirtschaftsmächte der Welt zu hieven. Für ein Land mit knapp acht Prozent Wachstum, stabilen Prognosen für die kommenden Jahre, Ressourcen aller Art im Überfluss, einer jungen, digitalaffinen Bevölkerung, einem riesigen unterfütterten Markt, und einem von systemischen Sorgen getriebenen und nach sicheren Anlagen suchenden Weltunternehmertum, scheint dies bei allen Imponderabilien keine völlig aus der Luft gegriffene Zielvorgabe zu sein. Auch sein Fernziel hält Modi aufrecht: 2047, zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit, soll Indien seinen Status als Entwicklungsland hinter sich gelassen haben.
Ohne Risiko ist ein Geschäftserfolg aber auch in einem so hoffnungsvoll aufstrebenden Land wie Indien nicht zu haben. Die ausgeprägte Bürokratie und die endemische Korruption des Landes stehen der „ease of doing business“ ebenso im Weg wie seine gemessen an den gesetzten Zielen noch weitgehend unzureichende Infrastruktur. Und dann ist da die unveränderte Dominanz der Landwirtschaft, die Arbeitskräfte bindet und von den Bundesstaaten nach Kräften verteidigt wird.
Auch Modi‘s außen- und sicherheitspolitische “Schaukelpolitik” werden Unternehmen beobachten müssen. Sie soll zwar Indiens Unabhängigkeit sichern, setzt aber Investoren in Zeiten gesteigerter systemischer Auseinandersetzung der Großmächte und von Sanktionen als Mittel ihrer Außenpolitik immer wieder die Gefahr aus, mit einem belasteten Partner Geschäfte zu machen.
Die besonderen Abhängigkeiten von Moskau, von Rohstoffen, aber auch in Rüstungsgeschäften, und die Notwendigkeit, bei aller Rivalität auch mit China im Geschäft zu bleiben, bringt Modi mit Blick auf sein Metaziel, Indien konkurrenzfähig mit China zu machen, um endlich selber in die Liga der führenden Wirtschaftsmächte der Welt aufzusteigen, in eine zwiespältige Lage. So manches deutet darauf hin, dass er die „Zwickmühle“ erkennt und mit Bedacht eine größere strategische Nähe zum “Westen” sucht, auch, um nicht noch weiter in die Logik der von China geführten Staaten der BRICS-Gruppe hineingezogen zu werden. Denn diese hat jüngst auch den Iran in ihrer Mitte aufgenommen und sieht im „Westen“ immer mehr den „Rivalen“, denn den „Partner“ oder „Wettbewerber“.
Wir werden also in Zukunft aus Indien womöglich ein stärkeres Glockengeläut in Richtung Westen hören. Stärkster Ausdruck dieser außen- und sicherheitspolitischen Neu-Kalibrierung ist die Beteiligung von Indien an der Quad, der Zusammenarbeit von Japan, Australien, den USA und eben Indien mit dem Ziel, den Expansionsdrang Chinas in der Region ein wenig Einhalt zu gebieten, einschl. der in jüngerer Zeit ostentativ dazu genommenen operativen Zusammenarbeit im militärischen Bereich. Ein Quantensprung für Indien.
Auch die Unterzeichnung des MoU’s zur Einrichtung des India-Middle East-Europe Economic Corridor am Rande des G20-Gipfels in Delhi im vergangenen Jahr gehört dazu, angeregt von Washington mit dem Ziel, die relevanten Märkte besser zu verbinden, dann aber vor allem auch, um die wirtschaftliche und politische Präsenz Indiens in den angeschlossenen Regionen als Gegenstück zu dem dort wachsenden Einfluss Chinas zu stärken, an der Seite der USA, versteht sich.
Auf gute Geschäftsbeziehungen zu Russland, auf dessen billiges Öl Indien vor allem setzt, wird Modi indessen nicht verzichten und er hat dabei nicht nur seinen Führungsanspruch im Konzert der Länder des „Globalen Südens“ im Auge, in dem Russland einen wirtschaftlich und politisch nicht unbeträchtlichen Rückhalt genießt. Er will sich durch diese kritische Verbindung sicherlich auch weiterhin die Chance offenhalten, im Krieg Russlands gegen die Ukraine zu gegebener Zeit wieder als Vermittler ins Spiel zu kommen, ein Anliegen, mit dem er im ersten Anlauf kläglich gescheitert ist.
In alledem liegt für die EU und Deutschland eine wirtschaftliche und strategische Chance, die wir entschlossen nutzen sollten. Denn in einer insgesamt risikoreicher gewordenen Welt kann eine auf Diversifizierung ausgerichtete “de-risking”-Strategie von Unternehmen, aber auch die geopolitische Strategie der westlichen Welt der Eindämmung von Chinas „Drang nach Westen“ an Indien trotz aller damit verbundenen Imponderabilien als „Prime“-Partner der „freien Welt“ nicht mehr vorbei!
Bei allen Herausforderungen, vor denen Indien steht, wird die größte sein, wie wir, wie die Europäische Union, in diesen schwierigen Zeiten ihre Chance wahrt, den Aufstieg Indiens nicht zu einem weiteren Abstieg der EU werden zu lassen. Die größten US-Konzerne haben die europäischen längst abgehängt. Europas Stagnation ist bei den Wahlen am vergangenen Wochenende in besorgniserregender Weise beschleunigt worden. Mehrheitsfindungen dauern und dauern, während andere schneller sind, Verträge abschließen und Geschäfte machen in einer Welt von Dynamik und Aufschwung.
Den wirtschaftlichen Niedergang in Europa beschleunigen wir, indem wir einen Feldzug gegen unsere Industrie angetreten haben. Freihandelsabkommen, so überlebenswichtig gerade für Deutschland als Handels- und Exportnation, gerade in Zeiten von wachsendem Protektionismus, kommen nicht voran oder werden torpediert. Das bisherige Scheitern des EU-Mercosur-Abkommens ist ein dramatisches Beispiel für Strategielosigkeit, nationalen Eigensinn und ideologische Arroganz. Für die Abkommen mit ASEAN bzw. seinen Mitgliedstaaten gilt das gleiche. Wir sollten mit Indien nicht denselben Fehler ein weiteres Mal begehen. Allemal nicht nach diesen EU-Wahlen.
Wenn uns am Erhalt unserer Wirtschaftskraft liegt, an neuen, strategischen Partnerschaften, an langfristiger Absicherung unserer Rohstoffinteressen, aber auch an einer regelbasierten internationalen Ordnung, dann müssen wir jetzt handeln. Bevor es andere tun, auch große europäische Partner, die in Indien längst aktiver sind als wir – oder Indien es sich anders überlegt.
Felder der Zusammenarbeit gibt es genug, auch jenseits klassischer Pfade wie der Automobilindustrie, der Chemie oder Pharmazie, so im Bereich Fachkräftenachwuchs, Ressourcensicherung, Rüstungszusammenarbeit, bis hin zur Weltraumkooperation, dem vielleicht spannendsten Bereich.
Mein kürzlicher Besuch in Mumbai, wo die LBBW ihre 25-jährige Präsenz vor Ort beging und ihre neuen Büroräume einweihte, war insoweit besonders eindrucksvoll: Aufbruchstimmung und Fortschrittsglaube wo man hinschaut!
Da kommt die APK in Neu-Delhi vom 24. bis 26.10. für die deutsche Wirtschaft gerade rechtzeitig.
Dr. Ulrich A. Sante
Botschafter a.D.
Vice-Chairman LBBW, Landesbank Baden-Württemberg
Foto: Vereidigungszeremonie des neuen Premierministers und Kabinetts nach der Lok Sabha-Wahl 2024 am 9. Juni 2024 in Neu Delhi, Indien (Sonu Mehta/Hindustan Times)