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Dies ist Indiens Moment. Damit es ihn nutzen kann, muss es drei Herausforderungen bewältigen

Dies ist Indiens Moment. Damit es ihn nutzen kann, muss es drei Herausforderungen bewältigen

Für Indien war die G-20-Präsidentschaft ein grosser Erfolg. Es wird geopolitisch und weltwirtschaftlich immer bedeutender. Doch damit Indien die (eigenen) Erwartungen erfüllt, muss es die eigene Wirtschaft vorantreiben und seine Demokratie stärken, statt nationalistische Projekte zu verfolgen.
Sanjeev Verma / Hindustan Times / Imago

Der erfolgreiche Abschluss des G-20-Gipfels in Delhi war ein wichtiger Meilenstein in Indiens ehrgeizigem Plan, sich von einer «ausgleichenden» Macht zu einer «führenden» Macht zu wandeln. Das Treffen bildete das Ende eines einjährigen Efforts, der Welt zu zeigen, dass Indien Lösungen für viele der drängenden politischen Probleme der Welt anzubieten hat – von der Gewährleistung eines «gerechten» Übergangs zu sauberer Energie bis hin zur Reform der multilateralen Entwicklungsbanken.

Der Erfolg des Gipfels war keineswegs garantiert. Die chinesische Verhinderungstaktik und die starken Meinungsverschiedenheiten über die Formulierung der Abschlusserklärung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine drohten den indischen G-20-Gipfel zum ersten dieser Treffen zu machen, das ohne gemeinsame Erklärung endet. Geschickte indische Diplomatie und der Eifer des Westens bescherten Indien am Ende einen deutlichen Sieg. Der Abschluss war erfolgreich, weil die umstrittenen Formulierungen zur russischen Invasion verwässert wurden.

In einer strategischen Komfortzone

Indiens geschicktes Navigieren durch diese turbulenten geopolitischen Gewässer hat die Vorstellung weiter verstärkt, dass das Land sich in einer strategischen Komfortzone befindet. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert, dass die indische Wirtschaft dieses Jahr um 6,1 Prozent wachsen wird. Das sind 50 Prozent mehr als die durchschnittliche Wachstumsrate der Schwellenländer und viermal so viel wie die der fortgeschrittenen Industrieländer.

Anfang dieses Jahres überholte Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Welt – eine symbolische Verschiebung, die jedoch die Bedeutung des wachsenden indischen Verbrauchermarktes für multinationale Unternehmen unterstreicht. Die Begeisterung für Indiens wirtschaftliches Potenzial wird durch die politische Stabilität des Landes noch verstärkt, die den Anlegern bei vielen anderen Brics-Staaten schmerzlich fehlt. Premierminister Narendra Modis Bharatiya Janata Party (BJP) hat 2014 und 2019 aufeinanderfolgende parlamentarische Mehrheiten gewonnen, und Umfragedaten deuten darauf hin, dass sie als Favorit in die Parlamentswahlen im nächsten Jahr geht.

Indiens rasanter Aufstieg ist jedoch nicht unaufhaltbar. Es gibt mehrere potenzielle Stolpersteine, die Indien überwinden muss, wenn es seine hochgesteckten Ziele erreichen will.

Raum für Demokratie ist geschrumpft

Betrachten wir zunächst die indische Innenpolitik. Es stimmt, dass die Hegemonie der BJP in Delhi für ein Mass an politischer Stabilität gesorgt hat, das Indien in den drei Jahrzehnten vor 2014 verwehrt war. Die BJP erreichte ihre dominante Stellung in lebhaftem politischem Wettbewerb und in Wahlen mit rekordhoher Stimmbeteiligung. Doch in der Zeit zwischen den Wahlen ist der Raum für Demokratie seit dem Aufstieg der BJP spürbar geschrumpft.

Die Regierungsgewalt ist in den Händen der Exekutive konzentriert, sehr zum Nachteil des Parlaments und der Judikative, die sich nicht als widerstandsfähig genug erwiesen haben, um den Einfluss der Exekutive einzudämmen. Darüber hinaus ist die BJP von einem hartnäckigen Streben nach hinduistischem Nationalismus beseelt oder von dem Glauben, dass die indische Kultur gleichbedeutend mit der hinduistischen sei.

Indem die BJP Gesetze, Politik und soziale Normen ihren ideologischen Überzeugungen entsprechend verbiegt, riskiert sie, das empfindliche multiethnische Gleichgewicht Indiens zu stören und den Status der mehr als 200 Millionen muslimischen Bürger Indiens zu schwächen. Die eng gefasste Vision der BJP für die Nation hat dazu geführt, dass die Partei und ihre Unterstützer diejenigen, die ihre ideologischen Prioritäten infrage stellen – seien es Journalisten, Vertreter der Zivilgesellschaft oder Akademiker – als «antinational» bezeichnen.

Wirtschaftszahlen sind mit Vorsicht zu geniessen

In wirtschaftlicher Hinsicht sind Indiens Gesamtwachstumszahlen beeindruckend. Aber die Nachhaltigkeit dieses Wachstums bleibt fraglich. Indien hat es innerhalb weniger Jahre geschafft, die Arbeit eines Vierteljahrhunderts an Handelsliberalisierungen durch die Erhöhung der Einfuhrzölle rückgängig zu machen. Das lässt Zweifel an der Integration in globale Lieferketten aufkommen.

Jüngste Untersuchungen von Laura Alfaro und Davin Chor ergaben, dass Chinas Anteil an den Importen der USA zwischen 2017 und 2022 um 5 Prozentpunkte gesunken ist. Der primäre Gewinner dieser «grossen Umverteilung» war jedoch Vietnam – Indien lag hinter Taiwan weit abgeschlagen an dritter Stelle.

Selbst Indiens Wachstumszahlen können nicht sein, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Arvind Subramanian und Joshua Felman argumentierten kürzlich, dass das nominale Wachstum in Indien in den vergangenen Quartalen eingebrochen sei, obwohl das reale Wachstum zugenommen habe – ein möglicher Hinweis, dass die Wirtschaft gar nicht dynamisch, sondern schlicht die Inflationsmessung fehlerhaft ist. Angesichts der widersprüchlichen Daten empfahlen sie den indischen Politikern erhöhte Wachsamkeit gegenüber den eigenen Zahlen anstatt verfrühter Feiern.

Hinwendung zu den USA

In der neuen multipolaren Weltordnung hat Indien unter Modi einen signifikanten Wandel vollzogen. Statt der traditionellen «Blockfreiheit» folgt das Land nun einer neuen Doktrin des «multi-alignment». Dieser Wandel hat Indien wohl näher als je zuvor an westliche Partner wie die Vereinigten Staaten gebracht. Am Rande des G-20-Gipfels war die Harmonie zwischen den USA und Indien deutlich, was sich in der Ankündigung eines neuen Wirtschaftskorridors zwischen Europa, dem Nahen Osten und Indien zeigte, der von der Biden-Regierung vermittelt wurde.

Die USA und Indien haben zudem weitere Schritte zur Integration ihrer Verteidigungssysteme beschlossen. Dem Westen ist es zudem gelungen, Indiens Abhängigkeit von russischen Waffen zu reduzieren: Deren Anteil an Indiens gesamten Waffenimporten ist in den vergangenen zehn Jahren von zwei Dritteln auf weniger als die Hälfte gesunken.

Doch während Indien seine Rüstungslieferanten diversifiziert, hat es seine russischen Energieimporte verdoppelt. Nach Angaben der Bank of Baroda machte russisches Öl im Jahr 2021 2 Prozent der indischen Rohölimporte aus; im Mai 2023 lag dieser Wert bei 20 Prozent. Und obwohl Indien und der Westen sich annähern, hat das Indien nicht davon abgehalten, sich auch bei den Brics-Staaten zu engagieren, die im Rahmen ihrer Erweiterung für den Westen irritierende Staaten wie Iran und Saudiarabien aufgenommen haben.

Drei Herausforderungen

Indiens Fähigkeit, seinen geopolitischen Moment in der Sonne zu nutzen, hängt am Ende davon ab, wie es drei entscheidende Herausforderungen bewältigt.

Erstens muss Indien seine politische «Software» aktualisieren, um sie an seine sichtbar verbesserte «Hardware» anzupassen. In den vergangenen zehn Jahren hat die Modi-Regierung beispiellose Investitionen in die physische Infrastruktur – Strassen, Häfen und Flughäfen – sowie in die digitale Infrastruktur getätigt, von der Einführung eines biometrischen Identitätssystems bis zu einer komplett neuen Plattform für digitale Zahlungen. Indien hat sich jedoch auch viele politische Eigentore geleistet, von der umstrittenen Demonetarisierung 2016 bis zur jüngsten bizarren Ankündigung, Laptop-Importe zu beschränken. Politische Stabilität hilft Indien nur, wenn sie mehr Sicherheit in den Bereichen Steuern, Rechtsstaatlichkeit und Regulierung bietet.

Zweitens muss Indien dringend seine Wirtschaft industrialisieren. Indien hat den Übergang von einer Agrar- zu einer Dienstleistungswirtschaft vollzogen, ohne ein beeindruckendes verarbeitendes Gewerbe aufzubauen. Zudem werden zu wenig Arbeitsplätze geschaffen – insbesondere für gering qualifizierte Arbeitskräfte –, um mit der wachsenden Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt Schritt zu halten. Modis «Make in India»-Kampagne ist ein Anerkennen der Notwendigkeit eines dringenden Korrektivs, aber die Umsetzung hinkt der Rhetorik hinterher. Die Regierung bietet lukrative Subventionen, um Unternehmen zur Produktion nach Indien zu locken. Aber gleichzeitig hat sie es für diese Firmen teurer gemacht, die benötigten Intermediärgüter zu importieren. Infolgedessen hat das verarbeitende Gewerbe (gemessen am Bruttoinlandprodukt) seinen stetigen Abstieg von einem Höchststand von 18 Prozent im Jahr 1995 auf heute 13 Prozent fortgesetzt.

Schliesslich muss Indien die demokratische Praxis besser mit seiner beispiellosen Vielfalt in Einklang bringen. Massnahmen, die die Gefahr bergen, ein de facto, wenn nicht sogar de iure abgestuftes System der Staatsbürgerschaft zu schaffen, in dem Hindus alle Vorteile der Staatsbürgerschaft in Anspruch nehmen, während religiöse Minderheiten eine permanente Unterschicht bilden, werden zu zunehmender Ungleichheit, sozialen Unruhen und politischer Instabilität führen. Nach 75 Jahren Unabhängigkeit wird der Versuch, eine heterogene Gesellschaft in eine nationalstaatliche Form des 19. Jahrhunderts zu zwängen, zwangsläufig scheitern.

Die sich rasch verändernde Struktur der Weltpolitik und der Weltwirtschaft – die sich Indiens kluge Politik zunutze macht, hat Indien ins geopolitische Rampenlicht gerückt. Ob sein Erfolg sich verflüchtigt, wie so oft nach einem globalen Gipfel, oder andauert, hängt davon ab, ob die politische Führung Indiens bereit ist, zugunsten eines steten langfristigen Fortschritts auf billige politische Erfolge zu verzichten.

Autor: Milan Vaishnav · Artikel aus der NZZ · Bild: Am G-20-Gipfel liess Indiens Premierminister Narendra Modi sich und sein Land feiern. (Sanjeev Verma / Hindustan Times / Imago)

Mit freundlicher Genehmigung der NZZ und auf vertraglicher Grundlage.

 

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