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Gastbeitrag: „Wer Indien gewinnt, hat den geopolitischen Konflikt gewonnen“

Gastbeitrag: „Wer Indien gewinnt, hat den geopolitischen Konflikt gewonnen“

Der Ökonom und Indienexperte Heribert Dieter über den ökonomischen Wettlauf zwischen Indien und China – und das politische Lavieren des Subkontinents gegenüber Russland und dem Westen. Interview von Bert Losse in der Wirtschaftswoche.

Herr Dieter, alle Welt umwirbt Indien. Zu Recht – oder wird Indien als Standort und Partner überschätzt?
Beides ist richtig. Indien kann in den kommenden Jahrzehnten zum Eldorado der Weltwirtschaft werden. Aber der Weg dorthin ist lang. Die Bürokratie etwa hat trotz mancher Fortschritte noch immer byzantinisches Niveau, Planungsprozesse dauern länger als in China. Zugleich spielt das Land geopolitisch eine immer wichtigere Rolle auf der Weltbühne. Es ist kein Wunder, dass gerade viele Staaten um die Gunst Indiens buhlen: Wer Indien gewinnt, der hat den geopolitischen Konflikt gewonnen.

Ist der anstehende G20-Gipfel in Indien eine Chance für das Land, auf Augenhöhe mit den etablierten Großmächten zu kommen?


Der Gipfel ist ein medienpolitisches Großereignis und wirkt schon im Vorfeld in die indische Gesellschaft hinein. Die Regierung nutzt die G20-Präsidentschaft, um Indien in den Mittelpunkt der globalen Beziehungen zu rücken – als aktiver, aber nicht blockgebundener Akteur.

Indien nimmt zwischen dem Westen und Russland eine neutrale Position ein. Kann es dem Westen gelingen, das Land zu sich herüberzuziehen? 

Das ist schwieriger, als es sich manche in Berlin vorstellen. Natürlich steht Indien als Demokratie dem Westen näher als totalitären Staaten. Aber es geht seinen eigenen Weg und will nicht als Vasall des Westens gelten. Das Land hat ja bis heute eine explizite Kritik am russischen Krieg gegen die Ukraine vermieden.

Ist die ambivalente Haltung gegenüber Russland nur ökonomisch bedingt – oder gibt es in Indien auch gesellschaftlich eine Russlandaffinität?
Die alte Sowjetunion hat Indien nach dessen Unabhängigkeit 1947 in kritischen Phasen immer wieder unterstützt. Das haben die indischen Eliten nicht vergessen. Russland ist ein wichtiger Waffenlieferant, und das immer noch vergleichsweise arme Indien importiert von dort billiges Öl. Man muss es klar sagen: Die indische Außenpolitik ist rein interessengeleitet. Zu den Ergebnissen zählt, dass sich laut Umfragen in keinem G20-Land der Regierungschef so großer Beliebtheit erfreut wie Premierminister Modi in Indien.

Aber wie stabil und demokratisch gefestigt ist Indien wirklich? Modi fördert einen Hindu-Nationalismus, der zunehmend autoritär daherkommt…
Die Angst vor dem Abgleiten Indiens in eine illiberale Demokratie ist nicht ganz unberechtigt. Modi kommt aus einer vergleichsweise aggressiven hinduistischen Strömung, seine Partei ist im Kern nationalistisch. Die 200 Millionen Muslime im Land werden bestenfalls toleriert. Das birgt das Risiko großer Spannungen. Umso wichtiger ist der wirtschaftliche Erfolg: Ein prosperierendes Indien ist innenpolitisch weniger konfliktträchtig als ein Land, das am Stock geht.

Die EU und Indien verhandeln seit Jahren über ein Freihandelsabkommen. Haben Sie Hoffnung auf eine Einigung?
Ja, aber nicht auf eine schnelle. Wir brauchen einen Schub in der europäisch-indischen Handelspolitik. Es geht aber auch deshalb nicht voran, weil die EU im Klima- und Sozialbereich weitreichende Forderungen stellt. Indien lehnt es ab, sich von Europa diktieren zu lassen, welchen Entwicklungspfad es zu beschreiten hat. Die EU muss sich entscheiden, ob sie der Geopolitik oder der Pädagogik den Vorzug geben will – beides zusammen wird nicht funktionieren.

Allerdings ist Indien kein geborener Partner für den Freihandel. Sondern traditionell eher protektionistisch unterwegs.
Das stimmt. Indien, das ja auch sozialistische Phasen hinter sich hat, konnte sich über viele Jahre nicht mit der Freihandelsidee anfreunden. Es gibt in der Gesellschaft auch heute keine übermäßig große Unterstützung für offene Grenzen. Daher geht es zwar mit der Liberalisierung der Wirtschaft voran – aber nur langsam. Die Regierung geht insbesondere im Agrarsektor vorsichtig vor, zumal 2024 Wahlen anstehen. Allerdings muss der Politik klar sein: Will Indien das neue China werden, dann muss es liberalisieren, dann muss es den Import von Vorprodukten erleichtern, dann müssen die hohen Zölle runter.

Und danach?
Indien hat gute Voraussetzungen für einen anhaltenden Aufschwung in den nächsten 20 Jahren und dürfte Deutschland in den kommenden Jahren als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Der Unternehmergeist ist hoch, die schlechte Infrastruktur wird massiv ausgebaut. Indien sieht sich als legitimer Nachfolger Chinas als Produktionsstandort.

Was macht Indien denn besser als China?
Das Land hat keine Kommunistische Partei, die in jedem Unternehmen versucht, den Geschäftsbetrieb zu beeinflussen. Das betrifft in China ja mittlerweile selbst Unternehmen mit maßgeblicher ausländischer Beteiligung! Die größte Trumpfkarte Indiens im Wettstreit mit China ist jedoch die Demografie. China schrumpft, die Einwohnerzahl wird mittelfristig unter die Milliardengrenze sinken. Für Indien gilt das Gegenteil, das Land ist schon heute die bevölkerungsreichste Nation der Welt. Langfristig hat Indien ökonomisch die besseren Karten.

Welche Rolle spielen dabei die Lohnkosten?
China ist nicht mehr billig in der Produktion. Die Lohnkosten in der Industrie haben sich seit dem Jahr 2000 mindestens vervierfacht, manche Experten sprechen sogar von einer Verzehnfachung. Doch Lohnkosten sagen nicht viel aus, wenn man sie nicht in Relation zur Produktivität betrachtet. Die Produktivität in Indien ist noch geringer als in China. Wobei sie auch in China nicht so hoch ist, wie man es nach 40 Jahren der Expansion vermuten könnte.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es bei westlichen Unternehmen zu einem Run von China nach Indien kommt?
Weil Apple in Indien investiert, heißt das noch nicht, dass Indien bereits China den Rang abgelaufen hat. Es gibt eine gewisse Absetzbewegung von China, aber noch keine Massenflucht. Allerdings muss man sich die Investitionszahlen in China genau angucken. Es heißt ja, dass es dort 2022 ein Rekordniveau deutscher Direktinvestitionen gegeben habe. In Wahrheit floss kaum neues Geld nach China. Die Unternehmen haben vielmehr in China erzielte Profite reinvestiert.

Heribert Dieter ist Ökonom bei der Forschungsgruppe „Globale Fragen“ der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und seit November 2022 Gastprofessor am National Institute of Advanced Studies in Bangalore. Seit fast 20 Jahren reist er zwei- bis dreimal pro Jahr nach Indien. Aktuell arbeitet Dieter an einem Buch über die indische Außen- und Außenwirtschaftspolitik, das 2024 erscheinen soll.

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