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Gastbeitrag: “Das neue Selbst­bewusst­sein des globalen Südens”

Gastbeitrag: “Das neue Selbst­bewusst­sein des globalen Südens”

Die Finanzkrise, die Corona-Pandemie, der Klimawandel und der Ukraine-Krieg bewirken, dass das politische und wirtschaftliche Agieren des Westens immer selbstzentrierter daherkommt. Kein Wunder, gehen die Länder des globalen Südens auf Distanz.

Der Westen agiert seit Jahren im Krisenmodus und stellt sich dabei so ungeschickt und überheblich an, dass er die Unterstützung vieler Entwicklungs- und Schwellenländer verliert. Die westlichen Industriestaaten verlieren in den Entwicklungs- und Schwellenländern wichtige Partnerländer. Sowohl den USA als auch der EU gelingt es immer weniger, Verbündete in den internationalen Beziehungen zu gewinnen. Stattdessen hat die Brics-Gruppe, zu der mit der Volksrepublik China und Russland zwei der wichtigsten Kontrahenten der westlichen Industrieländer gehören, überraschend viel Zulauf.

Beim Gipfeltreffen der Gruppe, das derzeit in Südafrika stattfindet, ist die Aufnahme von Iran, Saudi-Arabien, der Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien als «vollwertige Mitglieder» beschlossen werden. Für die westlichen Länder ist dies ein Warnsignal. Im geopolitischen Konflikt mit Peking und Moskau sind sie auf Verbündete in Afrika, Asien und Lateinamerika angewiesen. Doch warum gehen zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer eigene Wege und verzichten auf einen Schulterschluss mit den USA und den Ländern der EU?

Belehrung statt Kooperation

Ein erster und sehr wichtiger Punkt betrifft die Art und Weise der westlichen aussenpolitischen Rhetorik. Seit dem russischen Angriffskrieg hat sich die Tonlage westlicher Aussenpolitiker noch einmal verschärft. Sie vertreten ihre politischen Positionen heute gerne in einem absoluten Ton, der keinen Widerspruch zulässt.

Auch in Europa hat sich inzwischen das von amerikanischen Neokonservativen bekannte binäre Denken durchgesetzt. Die Welt wird eingeteilt in Gut und Böse. Präsident George W. Bush hatte elf Tage nach den Angriffen auf die USA am 11. September 2001 im Kongress festgestellt, dass jede Nation eine Entscheidung treffen müsse: sich entweder auf die Seite der USA zu stellen oder auf die Seite der Terroristen. Bush erklärte den Kampf gegen den Terror zu einem Überlebenskampf, zu einem Kampf der Zivilisation. Es sei der Kampf aller, die an Fortschritt und Pluralismus, Toleranz und Freiheit glaubten.

Vergleichbare Worte fielen von westlichen Politikern nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. In vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bleibt aber unvergessen, dass die von den USA geführte Gruppe 2003 ohne Mandat des Uno-Sicherheitsrates und aufgrund der falschen Prämisse, dass Saddam Hussein für den Westen gefährliche Massenvernichtungswaffen besitze, den Irak angriff. Der heutige Verweis westlicher Aussenpolitiker auf die Bedeutung einer regelbasierten internationalen Ordnung hat für Entwicklungsländer daher einen schalen Beigeschmack.

Dabei genügt ein Blick in die Geschichte des Kalten Kriegs, um die Aussichtslosigkeit belehrender Positionen zu erkennen. Der spätere amerikanische Präsident und damalige Senator John F. Kennedy stellte 1957 in der «New York Times» fest, im Kalten Krieg könnten weder die USA noch die UdSSR die internationalen Beziehungen entscheidend prägen. Keines der beiden Länder könne die internationale Politik unilateral gestalten und die Perspektiven anderer Nationen – Kennedy nannte Indien, Japan, China und eine Reihe nicht gebundener Staaten – ignorieren. Deren Denken und deren Perspektiven, so Kennedy, würden die Verteilung der Macht in den globalen Beziehungen entscheidend beeinflussen.

Diese Einschätzung Kennedys hat nichts von ihrer Richtigkeit verloren. Die Absolutheit, mit der von Entwicklungs- und Schwellenländern erwartet wird, die Positionen der USA und der europäischen Länder zu teilen, führt nicht zu Gefolgschaft, sondern im Gegenteil zu Widerstand und erklärt den Zulauf, den die Brics-Gruppe erlebt.

Dabei sind es keineswegs nur kleine, wenig bedeutende Länder, die in die Brics-Gruppe streben. Zu den Kandidaten gehört Saudiarabien, das jahrzehntelang zu den treuesten Verbündeten der USA im Nahen Osten zählte. Indonesien ist nach Indien, China und den USA das Land mit der viertgrössten Bevölkerung und einer der massgeblichen Akteure im indopazifischen Raum. Für Verwunderung sorgt, dass auch Argentinien und Thailand keine Scheu zeigen, weiterhin mit China und Russland eng zu kooperieren.

Weg vom Dollar

Der zweite Grund für die Popularität der Brics-Gruppe ist die Finanzpolitik der westlichen Länder. Vor allem die USA haben ihre Finanzpolitik nie unter Berücksichtigung der Folgen für Entwicklungs- und Schwellenländer gestaltet. Nach den Finanzkrisen in den USA und Europa senkten die Notenbanken von 2008 an die Zinsen auf ein extrem niedriges Niveau und förderten damit eine niedrige Bewertung ihrer Währungen. Seit gut einem Jahr setzen die westlichen Notenbanken nun auf die Bekämpfung der Inflation und haben abermals für finanzpolitische Turbulenzen gesorgt. Die Zinsen steigen weltweit und sorgen nicht nur in den westlichen Industrieländern für finanzpolitische Beben. Eine Konsultation der von der neuen Geldpolitik ebenfalls betroffenen Länder fand nicht statt.

Ebenso wenig wurden Entwicklungs- und Schwellenländer vor der Verhängung der Finanzsanktionen gegen Russland befragt. Die Folgen der Sanktionspolitik indes bleiben nicht auf diejenigen Volkswirtschaften beschränkt, welche die Sanktionen ergriffen haben.

Das Resultat der eigennützigen Politik der USA und anderer westlicher Industrieländer ist, dass die Suche nach Alternativen zum Dollar Fahrt aufgenommen hat. Offenbar können sich viele autoritäre Machthaber in Asien, Afrika und Lateinamerika gut vorstellen, selbst einmal von Sanktionen betroffen zu werden.

Daneben streben sie nach einer grösseren Autonomie in der Finanzpolitik und möchten die Abhängigkeit von den Konsequenzen der amerikanischen Geldpolitik reduzieren. So ist denn eines der wirtschaftspolitischen Ziele der Brics-Gruppe, die Bedeutung des Dollars für die Abwicklung des Warenhandels wie auch für die Devisenreserven zu verringern. Eine konkrete Alternative gibt es bislang indes nicht und wird es vermutlich auch nur langfristig geben können.

Neuer Hang zum Protektionismus

Der dritte Grund für die sinkende Popularität der westlichen Länder ist die heutige, auf teilweise Selbstversorgung setzende Wirtschaftspolitik der USA und der europäischen Länder. Besonders forsch agieren die USA. Die amerikanische Regierung gibt mit dem «Gesetz zur Senkung der Inflation» allein für Förderung klimafreundlicher Produktion 370 Milliarden Dollar aus.

Der Name des Gesetzes führt in die Irre: Im Mittelpunkt steht die Förderung der amerikanischen Industrie. Diese Massnahmen dürften einen eklatanten Verstoss gegen die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) darstellen. Eine Klage gegen die USA kann aber nicht angestrengt werden, weil die USA die Zustimmung zur Ernennung von neuen Richtern im Streitschlichtungsmechanismus der WTO verweigern. Dies ist mehr als eine Posse: Die USA untergraben so die regelbasierte Handelsordnung, die einst von ihnen geschaffen wurde.

Das von der amerikanischen Finanzministerin Yellen propagierte sogenannte «friendshoring» ist ein beklagenswerter Rückfall in das Autarkiestreben der dreissiger Jahre. Aber nicht nur die USA, sondern auch die Länder der EU haben sich von der bisherigen Form der internationalen Arbeitsteilung verabschiedet. Diese Abkehr von einer liberalen Handelspolitik ist aber nicht nur teuer, sie befördert auch die wirtschaftliche Abkapselung. Ärmere Länder sehen diese Abkehr von der bisherigen liberalen Handelsordnung zu Recht mit Sorge: Die USA und die EU gestalten den Zugang zu den eigenen Märkten restriktiver und subventionieren einzelne Industrien mit massiven Summen.

Ein Ausdruck des eingeschränkten Marktzugangs sind die vom Europäischen Parlament beschlossenen Lieferkettengesetze. Unternehmen werden gezwungen, die gesamte Lieferkette auf eventuelle Verstösse gegen Sozial- und Umweltstandards zu überprüfen. In Deutschland trägt das Gesetz den Namen «Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz».

Es handelt sich nicht nur um ein Wortungetüm. Aus Sicht vieler Entwicklungsländer stellen diese Gesetze eine unangemessene Bevormundung dar, weil die EU damit anderen Ländern die Fähigkeit abspricht, eigenverantwortlich für das Wohl der eigenen Bürger zu sorgen. Auch an anderer Stelle, etwa bei der Forderung an die brasilianische Regierung, den Regenwald zu schützen, zeigt sich eine Überheblichkeit, die in nichtwestlichen Ländern auf Ablehnung stösst.

Die USA und die EU wollen einerseits den geopolitischen Wettbewerb mit dem kommunistischen China und dem autoritären Russland aufnehmen und verhalten sich andererseits so, als ob der unipolare Moment, der nach dem Zusammenbruch der UdSSR begann, noch immer anhielte. Das wird nicht funktionieren: Die fehlende Akzeptanz divergierender Perspektiven vieler afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Länder nutzt vor allem dem autoritären China. Peking kennt in seinen Aussenwirtschaftsbeziehungen keine Lieferkettengesetze und agiert aussenpolitisch pragmatisch-anschmiegsam. Anders als der Westen hat Peking keine Berührungsängste gegenüber Diktaturen.

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