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Konfliktszenarien um Taiwan: «China führt eine umfassende Druckkampagne durch»

Konfliktszenarien um Taiwan: «China führt eine umfassende Druckkampagne durch»

Der amerikanische China-Experte Christopher Sharman stellt im Interview die Absichten und Fähigkeiten Chinas gegenüber Taiwan, die möglichen Krisenszenarien und Lösungsansätze dar. Einen Krieg hält er kurzfristig für unwahrscheinlich, aber auch nicht für ausgeschlossen.
Die taiwanischen Streitkräfte üben regelmässig die Reaktion auf eine mögliche chinesische Invasion. (Annabelle Chih / Getty)

Der amerikanische China-Experte Christopher Sharman stellt im Interview die Absichten und Fähigkeiten Chinas gegenüber Taiwan, die möglichen Krisenszenarien und Lösungsansätze dar. Einen Krieg hält er kurzfristig für unwahrscheinlich, aber auch nicht für ausgeschlossen.

Die nüchterne Beurteilung von Chinas Intentionen, militärischen Fähigkeiten und Konfliktszenarien gegenüber Taiwan ist eine der Aufgaben, die Christopher Sharman während seiner Karriere in der US-Marine und nun als Direktor des China Maritime Studies Institute am US Naval War College begleitet. Unter anderem diente er von 2009 bis 2012 als Naval Attaché an der US-Botschaft in Peking.

Im Interview zeichnet er ein differenziertes Bild des Kriegsrisikos um Taiwan, das Peking als abtrünnige Provinz ansieht. Er hält es nicht für ausgeschlossen, dass Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping den Befehl zum Angriff gibt, um Taiwan heim ins Reich zu holen. Aber Sharman meint: «Er würde dies gerne friedlich erreichen.»

Peking verstärkt daher den Druck. Damit rücken drei Konfliktszenarien in den Blickpunkt der Analysten: ein Angriff, eine Blockade und Grauzonenaktivitäten wie Manöver oder fast tägliche Flüge in Taiwans Luftverteidigungszone unterhalb der Schwelle eines Kriegs, um Taiwan und die Schutzmacht USA zu zermürben. Sharman glaubt, dass Chinas Volksbefreiungsarmee noch nicht ganz auf eine Invasion vorbereitet ist. Das gibt dem Westen Zeit, China von einer kriegerischen Vereinigung abzubringen, durch Gegendruck und deutliche Gesten und Worte. «Je mehr sich Ihr Europa in Asien engagiert, desto besser für uns alle», sagt Sharman.

Herr Sharman, wie sehen Sie die Absichten der Chinesen? Was wollen sie eigentlich?

Die Volksrepublik China führt eine umfassende Druckkampagne gegen Taiwan durch. Sie hat informatorische, militärische, wirtschaftliche und diplomatische Komponenten. Ausserdem gibt es kurzfristige und längerfristige Ziele. Kurzfristig will China einige der politischen Spannungen in Taiwan verschärfen und die taiwanische Demokratie untergraben. Peking will bei den Präsidentschaftswahlen die politischen Kräfte unterstützen, die China gegenüber freundlicher eingestellt sind.

Und auf längere Sicht?

Das langfristige Ziel ist die Wiedervereinigung in der einen oder anderen Form. Xi Jinping hat sich dazu sehr klar geäussert. Er würde dies gerne friedlich erreichen. Allerdings hat er sein Militär aufgefordert, sich bis 2027 auf militärische Optionen vorzubereiten, für den Fall, dass er eine militärische Wiedervereinigung mit Taiwan für notwendig hält. Das bedeutet nicht, dass es irgendeine Art von Zeitplan dafür gibt. Aber er möchte sich diese Option offenhalten.

Aus taiwanischer Sicht besteht dazu sicherlich keine Notwendigkeit.

Auf jeden Fall. Aber eine Säule seines Plans zur nationalen Verjüngung der Volksrepublik China ist die Vereinigung mit Taiwan. Hier geht es um ein persönliches Erbe. Aber es geht auch um den Nationalismus der Volksrepublik China und darum, China so wiederherzustellen, wie es nach Pekings Meinung sein sollte. Nach Ansicht Pekings ist Taiwan der einzige Teil Chinas, der noch nicht in den Schoss der Volksrepublik aufgenommen wurde.

Und wie sieht es mit den Fähigkeiten aus?

China hat in den vergangenen Jahren ein beeindruckendes Wachstum seiner militärischen Fähigkeiten gezeigt. Das reicht von Hyperschallwaffen bis hin zu dem, was China im Weltraum tut. Auch die chinesische Marine hat sich in den vergangenen dreissig Jahren radikal verändert. Als ich 1996 während der Krise in der Strasse von Taiwan vor der Küste Taiwans stationiert war, fuhren chinesische Marineschiffe jeweils nur für ein paar Tage aufs Meer hinaus. Aber heute sieht man, wie China in Einsatzgruppen um die ganze Welt fährt und sehr komplexe Operationen durchführt.

Xi scheint die Gesellschaft mit starker Propaganda auf das Mögliche vorzubereiten. Es sieht fast so aus, als ob Xi sich auf eine Art Kriegszustand vorbereitet.

Kriegsvorbereitungen geht für mich einen Schritt zu weit. Allerdings wird den Kindern von der Grundschule an beigebracht, dass Taiwan ein Teil Chinas ist. Für viele muss die Wiedervereinigung einfach geschehen. Auch der Nationalismus nimmt zu. Ich denke, ein Teil des Grundes für die robusteren Übungen rund um Taiwan hat mit der Befriedigung dieser Forderung der Bevölkerung zu tun.

Wie sieht es mit den weitergehenden Absichten und globalen Ambitionen aus? Einige Experten vermuten den Willen zu Expansionismus. Andere wie der ehemalige Aussenminister Singapurs, George Yeo, betonen, dass China keine derartige Geschichte imperialistischer Eroberungen hat. Was ist Ihre Meinung?

Lassen Sie mich hier einen Mittelweg einschlagen. Ich glaube nicht, dass China unbedingt danach strebt, ein grosses Gebiet in der Welt zu erobern. China versucht, eine Weltordnung zu gestalten, das westliche Modell zu verdrängen und in der Lage zu sein, in der Welt so zu agieren, wie es es für richtig hält.

Okay, das ist die eine Seite des Weges, was ist mit der anderen?

Davon abgesehen gibt es einen gewissen Expansionismus. Es ist ganz klar, dass China die Gewässer innerhalb der Neun-Striche-Linie und die Inseln, Riffe und Felsen im Südchinesischen Meer für sich beansprucht. Dies hat bereits zu Zusammenstössen mit den Philippinen geführt. Darüber hinaus erhebt China weitere extraterritoriale Ansprüche, etwa auf die japanischen Senkaku-Inseln.

Aber China dringt auch weiter ins Ausland vor.

Sicherlich sehe ich die Errichtung von Militärstützpunkten in Kambodscha oder Afrika auch als expansionistisch an. Aber ich glaube nicht, dass es Pekings Ziel ist, die Welt physisch zu erobern. Doch es gibt sicherlich einen systemischen Wettbewerb auf hoher See. Und es ist absolut wichtig, dass diese internationalen Gewässer internationale Gewässer bleiben und nicht zu Chinas inneren Gewässern werden.

Lassen Sie uns nun ein wenig über Konfliktszenarien sprechen. Was sind für Sie die wichtigsten Konfliktszenarien?

Es gibt mehrere mögliche Vorgehensweisen, vom Krieg bis zum Status quo. Die meisten Menschen denken an eine grossangelegte Invasion, weil dies die gefährlichste und katastrophalste Variante für die Welt wäre. Das würde bedeuten, dass Hunderttausende von Soldaten auf Taiwan einmarschieren, nach einem Beschuss mit ballistischen Raketen und dem Versuch der Volksrepublik China, die Luftüberlegenheit über Taiwan zu erlangen.

Wie wahrscheinlich ist ein Angriff?

Eine Invasion ist der komplexeste und riskanteste Ansatz. Ich glaube nicht, dass China im Moment so weit ist, aber es rüstet sich für einen solchen Angriff, einschliesslich seiner Kapazitäten bei ballistischen Raketen. Und wir sehen, dass es um Taiwan herum in Gebieten operiert, in denen es in Kriegszeiten wahrscheinlich operieren würde. Aber die Fähigkeit, eine grossangelegte Invasion durchzuführen, erfordert ein enormes Mass an Koordination und Abstimmung zwischen allen Streitkräften. Das braucht Zeit und Training.

Wie lange wird China brauchen, um diese Fähigkeit zu erlangen?

Ich würde es nicht genau beziffern. Aber letztlich kommt es auf die Politik an. Wenn Xi morgen früh aufwachen und sagen würde: «Ich möchte, dass ihr eine grossangelegte Invasion Taiwans durchführt», würde die Volksbefreiungsarmee sagen: «Roger, wir machen das.» Ich denke jedoch, dass Xi sehr pragmatisch ist und dies wahrscheinlich nicht tun wird.

Wie sieht es mit anderen Szenarien aus?

Eine Blockade ist ein weiteres Szenario, auf das sich viele Leute konzentrieren. So etwas haben wir nach dem Besuch der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, im August 2022 und nach dem Besuch von Präsidentin Tsai Ing-wen in den USA erlebt. China hat in den wichtigsten Seelinien um Taiwan Manöver durchgeführt.

Wie hoch ist dieses Risiko?

Das Risiko, dass China sich für eine Blockade entscheidet, ist durchaus gegeben. Andere denken daran, dass China kleinere Inseln Taiwans wie Kinmen und Matsu direkt vor seiner Küste einnehmen könnte. Die Volksbefreiungsarmee ist sicherlich in der Lage, diese zu erobern. Aber bedenken Sie, dass eine Blockade und die Einnahme der Inseln Kriegshandlungen sind und bereits eine heftige Reaktion anderer Länder auslösen könnten.

Was ist denn mit Aktivitäten in der Grauzone?

Sie sind am wahrscheinlichsten und am schwierigsten zu bekämpfen. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die passieren können, von einfachen bis hin zu schwereren Formen. Für die taiwanische Regierung und andere Nationen stellt sich immer die Frage, wann und wie sie reagieren sollen.

Könnten Sie ein Beispiel nennen?

Die Volksbefreiungsarmee oder die Küstenwache könnten Inspektionen auf taiwanischen Schiffen durchführen und Taiwan so die Souveränität entziehen. Das ist wahrscheinlich nicht der Punkt, an dem China sein möchte, aber es muss die Fähigkeiten entwickeln, diese hochgradigen Konflikte auszutragen.

Wie sieht es mit Taiwans Bereitschaft und seiner Verteidigungshaltung aus? Einige plädieren für eine Stachelschweinstrategie mit Raketen und Schiffsabwehrraketen und warnen vor der Anschaffung von Kriegsschiffen, die in einem Konflikt leicht versenkt werden könnten. Andere fordern traditionelle Systeme zur Abwehr von Grauzonenaktivitäten.

Die eine Denkschule besagt, dass Taiwan viele Raketen und andere Mittel der asymmetrischen Kriegsführung braucht, um den Preis einer Invasion in die Höhe zu treiben. Die andere Lehrmeinung besagt, dass Taiwan einige grosse Kapazitäten benötigt, um dem Druck von Manövern chinesischer Schiffe und Flugzeuge, die Taiwan umrunden oder die Mittellinie in der Taiwan-Strasse übertreten, standhalten zu können.

Was ist Ihre Ansicht?

Taiwan muss beides tun, sich auf eine Invasion vorbereiten und China abschrecken, damit Xi jeden Morgen mit dem Gedanken aufwacht: Heute ist nicht der Tag für eine Invasion Taiwans. Aber die andere Hälfte ist, dass Taiwan in der Lage sein muss, täglich zu reagieren, wenn chinesische Streitkräfte in taiwanisches Gebiet eindringen. Das bedeutet nicht, dass Taiwan es eins zu eins mit den chinesischen Streitkräften aufnehmen muss. Aber es muss sich auf diesen täglichen Druck vorbereiten.

Warum?

Diese Grauzonenoperationen drohen Taiwans militärischen und diplomatischen Handlungsspielraum einzuschränken.

Und was ist mit dem realen Risiko, dass etwas furchtbar schiefgeht?

Ich will ehrlich sein, das ist auch eine meiner grössten Sorgen. Ich befürchte, dass sich ein sehr kleiner Zwischenfall sehr schnell zu etwas ausweiten könnte, was für beide Nationen unglaublich schwer zu kontrollieren wäre. Und zwar genau wegen dieses Mangels an Kommunikation.

Aber hat US-Präsident Joe Biden bei seinem Gipfeltreffen mit Xi nicht zugesagt, wieder Gespräche von Militär zu Militär aufzunehmen?

Das ist grossartig. Militärische Kommunikation ist unglaublich wichtig, besonders in Krisenzeiten. Aber ich fürchte, dass es keine Garantie dafür gibt, dass die chinesische Seite in der Anfangsphase einer Krise mit uns sprechen wird.

Und warum?

Zunächst einmal müssen sie sich überlegen, wie sie reagieren wollen. Aber in einer Krise kommt es auf Stunden an. Ausserdem wird der Nationalismus in China, aber auch im Westen zu einem zusätzlichen Risiko. Je mehr Zeit vergeht, desto kleiner wird der diplomatische Spielraum, weil die Öffentlichkeit zu Hause aufschreien wird. Aber es gibt noch einen weiteren Faktor: Peking sieht diese Kommunikationskanäle als eine Art Waffe an, die es einsetzt. So schliesst die Führung die Kanäle, wenn sie ihrem Ärger Ausdruck verleihen will. Das ist nicht die richtige Antwort. Das ist eine sehr gefährliche Antwort für den Weltfrieden.

Autor: Martin Kölling, Tokio · Artikel aus der NZZ · Bild: Die taiwanischen Streitkräfte üben regelmässig die Reaktion auf eine mögliche chinesische Invasion. (Annabelle Chih / Getty)

Mit freundlicher Genehmigung der NZZ und auf vertraglicher Grundlage.

 

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